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Tinnitus fordert die gesamte Persönlichkeit heraus

Die ganze Hörverarbeitung des Hirns muss bearbeitet werden

Schon von der ersten Seite an hat man als Leser die Gewissheit, dass dieser Verfasser sein Thema in aller Breite und Tiefe beherrscht. Breite, als er den Blick für Therapien geöffnet hat, die außerhalb des üblichen schulmedizinischen Gesichtsfeldes liegen, seien es Thai chi, Osteopathie, Bach-Blütentherapie und viele weitere, an vielen Stellen vor allem die Ratschläge der Tinnitus-Liga. Tiefe insofern, als er für diese Ansätze nicht nur ein paar nette Wörtchen übrig hat, sondern sie so einbezieht, als habe er sie selbst ausprobiert. Das gilt nicht nur für die Therapie-Ansätze sondern auch für Einzelaspekte zum Tinnitus wie Schlaf, Schnarchen, Ernährung, Sport, Stress, Medikamente. Dank seiner Souveränität weiß Biesinger die jeweiligen Problem- oder Therapieansätze miteinander zu verknüpfen und bringt ihre Vor- oder Nachteile in Beziehung zu den Lebensbedingungen und Möglichkeiten eines Patienten. Ist es doch ein Unterschied, ob jemand nur vom Tinnitus geplagt wird oder eine Schwerhörigkeit und dazu einen Tinnitus hat. Die Darstellung der Anatomie, der diagnostischen Apparate, der Operationsverfahren und der Medikamente weiß Biesinger so straff und dennoch laiengemäß zu schreiben, dass man stets ihre Verbindung zur Problemlösung im Auge behalten kann.

Das ist ja schließlich auch das Entscheidende bei diesem Problemfall. Viele Betroffene werden immer noch davon ausgehen, dass es sich bei ihrem Hörsturz oder dem Tinnitus um ein rein akustisches Problem handele. Sie werden überrascht sein, dass bei dieser schweren Beeinträchtigung eine Störung des Gehirns und seiner Verarbeitung vorliegt. Fachleute gebrauchen heutzutage daher den Begriff einer „Umprogrammierung“. Zu diesem Verständnis trug ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 7.11.2012 bei, in dem geschildert wurde, wie ein Bauarbeiter, der jahrelang Schwerhörigkeit ertragen hatte, nach einem Cochlea-Implantat noch keineswegs hören konnte. Er musste auch als jemand, der gehört hatte und nicht etwa von Geburt an taub war, Höreindrücke verarbeiten lernen – seien es einsilbige Wörter oder Geräusche wie Händeklatschen.

Wie ein „Virus“ auf dem Computer

Das Entscheidende an der umfassenden Präsentation von Problematik ebenso wie Therapieangebot in diesem Zusammenhang ist nun, dass etwas wie die Entspannungstherapie nach Jacobson nicht nur als etwas Nettes dargelegt wird, das man sich auch einmal antun darf, sondern unter der zentralen Frage: Wie dient dieses Angebot der Umprogrammierung eines Menschen? Hilft es, gewisse emotionale Reaktionen abzutrainieren?

Biesinger meistert diese Herausforderung, ein Buch für die Tinnitus-betroffenen Patienten zu schreiben. Das Buch gibt ständig zu erkennen, dass er mit allen Arten von Schicksalen vertraut ist, und die zwischengeschalteten Patientenberichte unterstreichen das nur. Vor allem aber wächst aus seinem Überblick und seiner Detailkenntnis die Ermutigung zur Umprogrammierung, die diese Patienten nötig haben, wenn sie erfahren, dass es hier keine rasche Abhilfe gibt sondern nur die Arbeit an sich selbst: „Ist der Verlust an Lebenskontrolle … durch den Tinnitus entstanden? Oder ist der Tinnitus Ausdruck … eines negativen Lebensgefühls, in das der Betroffene langsam hineingerutscht ist?

A. Martin Steffe

Biesinger, Eberhard: Tinnitus. Endlich Ruhe im Ohr. Stuttgart (Trias) 2013,
186 S., €19,99