Gesundheit
Reisen & Kultur
Gästeführer
Impressum
Button-Link
 
 
Växjö und Seattle: Auch Schweden hat eine Auswanderergeschichte

Um 1900 wohnte jeder 6. Schwede in Amerika

Das durchorganisierte Sozialwesen und das gepflegte Erscheinungsbild Schwedens erwecken auf ausländische Gäste den Eindruck, das Land habe darin Tradition. Dass aber zwischen 1846 und 1914 Tausende von Schweden ihr Land Richtung USA verlassen mussten, ist den wenigsten bekannt. Die Schweden wußten es lange Zeit gar nicht einmal selbst. Obwohl es zwischen 1920 und 1930 noch einmal im Amerikafieber eine besondere Auswanderungswelle, meist zu ausgewanderten Familien und Freunden, gab. Allerdings kehrte jeder 5. dieser Auswanderer wieder nach Schweden zurück. Als diese Geschichte den Schweden inmitten ihres Wohlstandes bewußt wurde, waren sie darüber so böse, dass sie mit allen Zeugnissen ihrer Geschichte achtlos umzugehen begannen. „Ein Land, das seine Kinder nicht einmal ernähren kann, verdient nicht, dass wir uns seiner erinnern”, war die Hassparole.

So schwanden in Schwedens Städten die Altstädte und roten oder gelben Holzhäuschen und machten langweiligen Kuben und Quadern Platz. Selbst Universitätsstädte wie Uppsala blieben vom Abbruchwahnsinn nicht verschont. Erst am innersten Altstadtkern kamen die Bagger und die Zukunftsoptimisten zum Halt. Heute wird das bereut, und der Umgang mit der Geschichte hat sich glücklicherweise geändert.

Vier Romane setzten alles in Bewegung

„Schuld” an beiden Entwicklungen war der Schriftsteller Vilhelm Moberg (1898-1973) mit seinen vier großen Romanen über die schwedischen Auswanderer:
Die Auswanderer, Die Einwanderer, Die Neusiedler, Letzter Brief nach Schweden.
Der ursprüngliche Glasfabrikarbeiter aus Modala und spätere Zeitungsredakteur Moberg stellt die gesamte Spanne vom ersten Auswanderungswunsch bis zur letzten Generation von Schweden mit einem Emigrantenbewußtsein und dem Tod der ersten Auswanderergeneration geschickt am Beispiel einer Familie dar. Die didaktisch geschickte Konzentration in diesen zwischen 1947 und 1959 entstandenen Romanen auf die Familie von Karl-Oskar und Kristina Nilson macht die Problematik faßbar.
Vom Abschiedsgespräch vor dem Ortspfarrer, Skorbut und Tod auf der Überfahrt, Begegnung mit dem ersten Nachbarn in Minnesota - Vilhelm Moberg schildert den Leidens- und Erfolgsweg sprachlich so mächtig, so meisterhaft genau und lebendig, dass man meint, alles selbst erlebt zu haben. Das Material und die Korrespondenz seiner zwölfjährigen Arbeit widmete er nach Abschluß der Romane dem Auswanderermuseum. In ihm ist heute auch ein Moberg-Zimmer original eingerichtet. Mobergs Romane und ihre Reaktion in Schweden schufen erst die kulturelle Grundlage, auf der die großen Sozialreformen unter Premierminister Tage Erlander begannen und später fortgeführt wurden.

„Minnesota-Tag” jeden 2. Sonntag im August

Alles selbst erlebt zu haben, meinten auch die Schweden, als sie seine Romane gelesen hatten. Mobergs Schöpfungen führten zwar einerseits zu der hasserfüllten Abkehr der Schweden von ihrem, wie sie pubertierend meinten, stiefmütterlichen Land. Andererseits entstand ein Auswanderermuseum in Växjö in Småland, dem Landesteil, der am meisten Beinaheverhungerer entließ. Aber auch entlang der wichtigsten Auswandererstrecke aus dem Umkreis von Ljuder bis zur Hafenstadt Karlshamn an der Küste von Blekinge werden heute viele Stellen hervorgehoben, und man kann einem Auswandererpfad wandernd folgen.

Dabei war Karlshamn nur anfangs einige Jahre Emigrantenhafen. Später sparten sich die småländischen Bauern ein paar Tage quälende Seefahrt und zogen statt dessen lieber länger über Land nach Göteborg, Malmö oder Kopenhagen, oder, wenn sie von weiter nördlich kamen, nach Oslo. Später reisten viele auf Postschiffen nach Hamburg oder gar Hull und dann Liverpool. Auch auf der „Titanic” gab es eine große Gruppe schwedischer Auswanderer. Ihr Schicksal ist im Museum am Beispiel Mauritz Åbergs dargestellt.

Fast 1,25 Millionen Schweden verließen ihre Heimat

Fast ist nicht mehr zu unterscheiden: Was war Auswanderergeschichte, was ist Mobergs Roman, was ist Mobergs persönliche Familiengeschichte (in der es allerdings zahlreiche Auswanderer gab)?
Mobergs Romangestalten Karl-Oskar und Kristina stehen nicht nur in Bronze am Hafen von Karlshamn, und nicht nur steht in der Stadtbibliothek eine Nachbildung der von ihnen zur Auswanderung benutzten Brigg. In der ganzen Stadt heißen Bekleidungsgeschäfte oder Cafés nach ihnen. Die an Karl-Oskar und Kristina konkretisierte Geschichte jener unschwedischen Epoche Schwedens wurde auch verfilmt. Max von Sydow und Liv Ullmann spielten die Hauptrollen. Die mehrstündige Fernsehserie ist auf Videobändern im Auswanderermuseum auf verschiedenen Sprachen erhältlich. Karl-Oskar und Kristina - diese Romangestalten haben den Schweden auf immer eine konkrete Vorstellung ihrer Auswanderergeschichte vermittelt. Ein weiteres Beispiel, wie mächtig Literatur sein kann.

Studium statt Auswanderung

Andererseits sind Mobergs Romane so sorgfältig recherchiert, dass man vertrauen kann, ihre Fiktion führt nicht auf Abwege. Mobergs Romane zielen auf einen Eindruck von jener schweren Zeit. Keineswegs benutzen sie bloß die Auswanderergeschichte als Hintergrund für die Fiktion ganz anderer zwischenmenschlicher Vorgänge, was ja literarisch auch denkbar wäre. Moberg recherchierte auch vor Ort in den USA, und zwar besonders in Minnesota, Iowa und im Staat Washington, wo sich die meisten Nordeuropäer niederließen. In Seattle ist ihnen heute ein gesamtskandinavisches Einwanderermuseum gewidmet, das Nordic Heritage Museum (gegründet 1980). Die Norweger waren überwiegend in der Forstwirtschaft als Zulieferer für Schiffs- und Eisenbahnbau beschäftigt, die Dänen bescherten dem Nordwesten eine funktionierende Milchwirtschaft, die Schweden den Obst- und Getreideanbau (die Deutschen den Weinanbau). Diese erfolgreiche und nützliche Aufgabenteilung integrierte sie rasch. Zu einem größeren Anteil, als es den hungernden Iren oder anderen zuströmenden Völkern möglich war, schafften es die Skandinavier, sofort selbständig zu arbeiten oder gefragte Arbeiten übernehmen zu können.

Die Schweden bauten Chicago

In den nachfolgenden Generationen begannen die Frauen oft als Hausangestellte in Chicago, Minneapolis oder New York. Im Jahre 1900 lebten in Chicago (Chicago Swede Town) mehr Schweden als in Göteborg. Die „Swedish Maid” wurde zu einem Begriff. Moberg selbst hatte von einem Onkel in den USA 1916 Geld für ein Ticket zur Auswanderung bekommen, er zog es aber vor, zu studieren anstatt auszuwandern. Hinzu kam, dass sie rassisch dem Bevölkerungskern der „WASP”, White Anglo-Saxon Protestants, entsprachen. An der Spitze des Einwanderungserfolges stehen Leute wie Charles Lindbergh, dessen Familie 1860 aus Kristianstad ausgewandert war, der Erfinder John Ericsson oder der Astronaut Edwin Aldrin: Die Schweden haben es geschafft.

Drei Auswanderungswellen: 1868-72, 1880-93, 1901-10

Warum mußte man damals Schweden verlassen? Ein Grund war, dass die schwedische Großmachtzeit mit dem verlorenen Krieg Karls XII. 1709 bei Poltawa ein Ende gefunden hatte. Allein in dieser Schlacht wurden 40.000 Schweden von den Russen aufgerieben. Nun blieb die Bevölkerung im Lande, erholte sich von den wahnsinnigen Verlusten. Um 1800 betrug die Bevölkerung 2,3 Millionen Einwohner. Bis 1900 verdoppelte sie sich - trotz der Auswanderung! Für die verwundeten Soldaten gab es ein Wiedereingliederungsprogramm, zu dem auch ein bestimmtes Standardhäuschen mit Grundstück, das in Form und Lage noch heute als solches erkennbar ist (sofern es nicht abgerissen wurde). Moberg selbst wuchs in einem solchen Häuschen auf. Viele Soldaten wurden Lehrer. Für die in den folgenden Jahren wachsende Bevölkerung aber gab das Land nicht genug zu essen her. Zwar konnte man allerlei Vieh ziehen, Feldfrüchte anbauen und Fische fangen. Aber sobald nur ein Unwetter eine Ernte vernichtete oder eine Seuche den Viehbestand dahinraffte oder ein Mitglied der Familie durch Krankheit oder Tod ausfiel, brach das ganze Ernährungssystem restlos zusammen.

Zweiter Grund war, dass die ehemals reformatorische lutherische Kirche herrschaftliche Züge bis hin zum Verbot des häuslichen Bibellesens angenommen hatte. Luther drehte sich im Grabe um. Es regten sich Freikirchen, aber deren Leiter wurden oft mit Gefängnis bestraft. Angesichts dieser Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat wundert einen auch nicht, dass die Adelsgeschlechter - meistens belohnte Kriegsoffiziere - sich herrschaftlich aufführten, so wie es unter dem ursprünglichen bäuerlichen Landadel nicht üblich gewesen war.

Heute sind fünf Millionen Amerikaner schwedischer Herkunft

Was bedeuten diese Auswanderer heute? Das Museum in Växjö, gegründet 1965, zeigt mit dem Finger auf die Not, die die Schweden hinaustrieb, die quälenden Umstände der Auswanderung, und den beschwerlichen Beginn des Heimischwerdens im neuen Lande. Das Museum in Seattle feiert die großen, tapferen, neuen Landeskinder und ihre erfolgreiche Ansiedelung und weist dabei manchmal verklärende Züge in den Darstellungen der Herkunftsländer auf. Wer sind sie nun: amerikanische Schweden oder schwedische Amerikaner? Was behalten Auswanderer bei, was nehmen sie neu an? Wo erinnern sie sich zärtlich ihrer Heimat, wo mit Verachtung und Gefühlen einer Befreiung? Das sind Fragen, die sich heute in Europa wieder stellen. Als habe es nicht schon genug Auswanderergeschichten gegeben.

Die Hin- und Herbewegung hört nicht auf

Jahrzehntelang blühte eine Schweden-Amerika-Seefahrt, als die Schweden in den USA und im alten Schweden einander ab etwa 1910 zu besuchen begannen. Diesem Seefahrtskapitel ist ein eigenes Kapitel im Stockholmer Seefahrtsmuseum gewidmet. Mit dem Aufkommen des Flugverkehrs stieg die Zahl der Amerikaner, die mit SAS in ihre Herkunftsländer flogen. Bis heute gibt es Schwedischstämmige, die sich im Herkunftsort ihrer Familie begraben lassen. Mehr und mehr bilden sich Clubs von Zurückgebliebenen und Rückkehrern, so etwa in Ljuder, zumal dieser Ort durch Moberg so bekannt wurde. Denn natürlich haben auch die Schwedisch-Amerikaner ihren Moberg auf englisch gelesen oder die Verfilmung auf englisch gesehen. Im Auswanderermuseum in Växjö hört man ständig englischsprachige Erklärungen vor weißhaarigen Zuhörergruppen.

Mehr Menschen sollten sich mit dem schwedischen Auswanderungskapitel und seinen immer zahlreicher werdenden Zeugnissen befassen. Denn Europa zeigt, dass Auswanderung und Einwanderung immer noch ein ungelöstes Problem ist. „Die heutige Einwanderung in unser Land kann ... als Fortsetzung der Auswanderung von Karl-Oskar und Kristina gesehen werden”, lautet die typisch schwedische Schlußfolgerung in der Broschüre des Auswanderermuseums.

A. Martin Steffe

The Nordic Heritage Museum: www.nordicmuseum.com