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Platz genommen in Ruinen.
Charmant-chaotische Restaurants auf der Insel Kreta

Im Süden der Insel Kreta fängt das Städtchen Paläohora die aktiven Touristen auf.
Wer die zerklüfteten Täler Westkretas bestaunen wollte und mit einem der leicht erhältlichen Mietwagen durchquerte, landet am Schluß seiner Expedition unweigerlich an dieser Landspitze mit seinen zwei Stränden, dem Kieselstrand im Osten und dem Sandstrand im Westen. Hier in der Hitze des Sommers und in den lauen Wogen ist nicht schwer vorstellbar, dass hinter dem Meer der Kontinent Afrika beginnt.

Allabendlich vollzieht sich still dasselbe Schauspiel: Die Hauptstraßen leeren sich von Autos, Tische werden herausgestellt und nach und nach zeigt sich im raschen Besetzen der Plätze, wie viele Touristen tatsächlich in der Umgebung angekommen waren. Wo eben noch staubige Jeeps und Motorräder zurückgebracht wurden, kehrt jetzt Ruhe ein. Nur ein angenehmes Raunen füllt die Gassen. Wo eben noch junge Griechen mit wilden Motorrädern vorgeknattert kamen um eine fehlende Milch oder ein paar dringend benötigte Zucchini zu kaufen, bleiben nur Läden, Boutiquen, Postkarten- und Zeitungskioske offen und verstärken das Licht der Cafés und Tavernen.

In der rasch zunehmenden Dunkelheit fällt ein Lokal immer mehr auf. An Vierertischen sitzen auf den unscheinbaren blauen Stühlchen mit Geflecht für Sitz und Lehne ruhig plaudernde Gäste. Über ihnen an den altweißen Mauern geben Birnen mit Messinghaltern ein edel wirkendes Licht von sich und verbinden die auf dem Bürgersteig speisenden Gäste im selben Schein. Nur: Wo ist das Lokal?

Wer Kreta zum ersten Mal bereist, wird darüber staunen, dass sich viele gastronomische Angebote in und um Häuserruinen erstrecken. Kann es denn da ordentliches Essen geben, mag man sich fragen. Doch nach einer Weile der Gewöhnung öffnet sich der das „Ordentliche” und „Vollständige” prüfende Blick des Urlaubers. Nach ein paar Tagen, in denen er die gewohnte Amtsstube mit ihren rechteckigen Fenstern und ihrem rechteckigen Mobiliar hinter sich läßt, nimmt er neugierig Platz in der nächsten Ruine und läßt sich von der gebratenen Käsescheibe mit Zitrone oder einem Meeresfrüchteteller überraschen.

Nach ein paar Tagen öffnet sich das Gewohnte im Urlauber und er bekommt ein Gespür für das Kreative und Anregende der unbedeckten Mauern. Das Erstaunliche passiert: Er erlebt, dass man sich auch zwischen Mauern mit verblaßtem Anstrich oder zum Vorschein tretenden Findlingen oder Ziegeln, unter feuergeschwärztem oder altersgetrocknetem Gebälk durchaus wohl und behaglich fühlen kann.

Was geschieht da eigentlich? Was geschah zuerst? Hatten die Kreter zuerst ein Gespür dafür, wie sie die Touristen mit einem ungewöhnlichen Reiz ansprechen können? Oder haben die Touristen Blick für eine andere Lebensform bekommen? Viele Tage braucht es in der Tat nicht, um zu spüren, dass das Leben der Kreter mehr noch als das der Festlandsgriechen draußen stattfindet. Die Taverne mit ihrem hölzernen und begrünten Spalier oder den weit geöffneten zimmerhohen Türen eines festen Hauses ist die verbreitetste Form auf Kreta, draußen und doch bei jemandem drin, also zu Hause oder zu Gast zu sein.

Von dieser gastronomischen Stufe der mittlerweile biergartensüchtigen Nordeuropäer an ist es nicht mehr weit zu den Ruinen, die nur graduell noch mehr draußen sind als der Holzpodest vor einem Gebäude oder ein weit geöffnetes Gasthaus. Gegen Ende ihres Urlaubs finden die Urlauber: Es geht gar nicht anders, es muß eine Ruine sein. Und fortan suchen sie gezielt nach dieser Art von lauschigem Fleckchen.

Die Taverna „Amegis” in Paläohora erstreckt sich über mehrere große Untergeschoßräume eines ehemals stattlichen Stadthauses. Die alten Türen sind teilweise erhalten. Die Trägerbalken für das obere Stockwerk sind noch alle da und werfen ein lustiges Schattengitter auf den grauen Kies innerhalb des Gemäuers. Ein paar Palmen strukturieren den größten Raum und vermitteln eine wohnliche Zimmeratmosphäre, während die wilde Birke in einer Ecke daran erinnert, dass man eigentlich wiederum draußen ist.

Schlichte Eisenleuchter vermitteln wieder die Erinnerung an geschlossene Räume, während die Gummibänder um die Tischdecken daran erinnern, dass es hier draußen eben auch einmal windig sein kann. Drinnen und draußen - eigentlich kann es nicht anders sein. Oder - wie einmal ein Tourist im Anblick einer Abteiruine in den Yorkshire Dales erstaunt bemerkte: Die haben das aber dekorativ zerstört!

Ist die Taverna „Amegis” dekorativ zerstört worden, oder hat man eine Ruine vor dem letzten Verfall spontan aber geschickt genutzt? In Paläohora ist „Amegis” ein Beispiel für aufgegebene und „natürlich” zerfallene Häuser auf Kreta, für die jüngere Besitzer eine neue Nutzung fanden. Es gibt Beispiele, dass die Ruinengemäuer von findigen Besitzern ehrgeizigen jungen Gastronomen vermietet werden.

Es gibt Beispiele, nicht zuletzt in Paläohora selbst, dass deutsche Frauen, die mit ihren ehemaligen Gastarbeitermännern einwanderten, Ruinen-Tavernen betreiben. Klar, auf dem Hintergrund ihrer kühlen Heimat erkennen sie besonders rasch, dass Kretakenner sich gerne zwischen den wildern Mauern niederlassen. „Alternativ” hätten die 68er und die Zorbas-Anhänger diese Art von Tavernen sicherlich genannt.

Auch in einem anderen ehemals venezianischen Stützpunkt an der Nordküste, einer der großen Städte Kretas, fehlt es nicht an reizvollen Ruinenrestaurants. Wer die Insel vom Süden her wieder durchquert hat oder der aufregenden Küstenstraße im Westen gefolgt ist, braucht auch im Norden auf den mittlerweile gewohnten Rahmen für seinen Choriatiki-Salata, Ouzo und Hellenikos nicht zu verzichten. In der Altstadt Chanias wechseln Boutiquen, „Rooms to let” und Ruinenrestaurants einander ab.

„Mesostrato” in der Zampeliou-Straße hat allerdings eine andere Entstehungsgeschichte als „Amegis” in Paläohora. Im verlustreichen Landemanöver der Deutsche Wehrmacht und dem es begleitenden Bombardements fielen die Decken des gut gemauerten, ursprünglich vierstöckigen Gebäudes ein. Dennoch ist es zwischen den hohen Mauern nicht dunkel, denn durch die Fensterlöcher und über das offene Dach flutet das warme Licht herein. Jannis, der gleich seinen Kollegen am Hafen die bummelnden Touristen lebhaft und wortreich und mehrsprachig hereinlädt, hat das Areal gemietet.
Er macht eine Andeutung, dass er dafür nicht wenig zahlen muß. Kann man sich denken, bei den Strömen von Menschen, die in Chania nach ihren Fußmärschen Verpflegung suchen.

Jannis weiß nicht zu sagen, was zuerst war: ob die Wirte den anziehenden Reiz der Ruinen erkannten oder die Touristen Gefallen an den Ruinen-Tavernen entdeckten. Er war nicht der erste Mieter innerhalb der Mauern. Unverkennbar, dass er diese Gastronomie-Nische bereits übernahm: Der hellgraue, dicke Kies ist gut geharkt, die Vierertische sind einheitlich rot mit weißer Überdecke bedeckt, ein paar Palmen in Töpfen unterbrechen das Braun der Mauern. Die wild gewachsene Platane durfte in der Mitte weiterwachsen und wurde nur mit einem niedrigen Mäuerchen eingefaßt. Ob es keine Pläne gebe, das Gemäuer wieder aufzubauen. „Warum”, fragt Jannis. Für die Gastronomie ist doch alles Nötige da. Und in der Tat: So basarartig er draußen Gäste hereinlud, so persönlich und aufmerksam bedient er uns drinnen. Wir vermissen weder etwas an der Qualität seiner Speisen und Getränke noch an der persönlichen Bedienung, die wir von den Tavernen draußen auf dem Lande kennen.

Etwas näher an der ehemaligen, nur teilweise erhaltenen Stadtmauer erwecken die feuergeschwärzten Trägerbalken von „Ela”, dass auch dieses gastliche Hausgemäuer durch den Bombenhagel auf Chania entstand. Das ist jedoch nicht der Fall. Das nischenreiche, verwinkelte Kellergeschoß mit seinen verschieden hohen Fußböden wurde 1630 von sephardischen Juden aus Spanien als Seifenfabrik erbaut. Das erklärt die verschieden hohen Böden und die andersartigen Fenster: Sie sind niedriger als die Fenster von Wohnhäusern angelegt, damit ein Luftzug entstand, der die Seifen besser trocknen ließ. Die heute schwarzen, eng gelegten hölzernen Trägerbalken blieben bei einem Feuer im Jahre 1988 deshalb erhalten, weil sie außergewöhnlich dick waren. Das sollte Erschütterungen verhindern, die sonst den Reifungsprozeß der Seifen gestört hätten. Alle Holzarbeiten wurden aus Kastanie und Holz vom Schwarzen Meer gefertigt.

Dank der Robustheit des Gebäudes in der Kondilaki-Straße konnte es im Laufe der Jahrhunderte als Schule, Weinkeller, Distillerie und schließlich Fabrik für Käse und Süßigkeiten genutzt werden. Zwischen 1976 und 1988 wurden alle Stockwerke gründlich restauriert und dienten dann einem Restaurant mit Café und Bar. Nach dreijähriger Unterbrechung und Beseitigung der Trümmer setzt das charmant-chaotische Gemäuer mit dem Restaurant „Ela” die gastronomische Tradition fort. Der hohe Standard der traditionellen Gerichte, die Live-Musik und noch mehr die farbige Broschüre zum Hause geben zu erkennen: Es ist gar kein Gedanke daran, die Ruinen auszubauen. Das wissen die Kreter heute so gut wie der dösende Fischer in Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral”. Die Broschüre verrät, dass die Sicherheit des Gebäuderests offiziell daraufhin geprüft wurde, ob es als Taverne in Betrieb genommen werden konnte.

In Betrieb ist das Lokal allerdings nur von Frühjahr bis Herbst. Ein Spiegel des Extrems der Gästezahlen in Chania im Laufe eines Jahres. Investitionen also wofür? Einen Betriebswirtschaftler könnte ja einmal reizen nachzurechnen, wie die Fixkosten einer wiederaufgebauten Ruine zu Buche schlagen würden, und dass die Drachmen der Touristen besser in den frischen Dolmadakia oder Juvetsi angelegt sind. Allerdings geht das Konzept auch nur auf Kreta auf, da wo die Leute selbst nur kleine Häuser haben. Denn das Leben findet draußen statt.