Dramen wie Bildnisse: Standbild vs Bewegungsbild
Die Dramen Ernst Barlachs (1870-1938)
Ernst Barlach wuchs in Wedel westlich von Hamburg an der Elbe, in Schönberg (Mecklenburg-Vorpommern) und in Ratzeburg auf. Sein Vater war Arzt und entwickelte im Schulalter die Idee, den kleinen Ernst auf seinen Kutschfahrten zu den schwerkranken Patienten mitzunehmen. Das war an sich eine schöne Art, wie der Vater seinem Sohn sein "Handwerk" vermittelte. Es scheint jedoch, dass er versäumt hat, mit seinem Erstgeborenen über das Erlebte ausreichend zu sprechen. Der muss die Fälle, zu denen der Vater gerufen wurde, als schwer lastende Schicksale empfunden haben. Denn seine Dramen enthalten alle Elemente schwerer, unabänderlicher Schicksale, Krankheiten, Suchtbelastungen und Missbildungen (Besenfuß, Steißkopf), ja immer auch etwas Ominöses: Ein Pferd, das den Sohn mitzunehmen droht, ein Schiff, das erwartet wird, ein Sühnetod am Kreuz, der bevorsteht, ein Löwe, von dem niemand weiß, wo er gerade herumschleicht.
Vom Vater einbezogen – gut gemeint
In seiner Ausbildung nach der Schulzeit erlebte Barlach eine reiche Palette von anregenden Städten und Stätten. Zunächst in Dresden (daher der sächsische Akzent des Onkels …), Altona und Hamburg, dann in Höhr im Westerwald, einer maßgeblichen Ausbildungsstätte für Glas und Keramik bis heute, später in Berlin. In der Traumstadt Paris war er mit Unterbrechungen fast drei Jahre lang, und das schon 1891, als Frankreichs schmähliche Niederlage erst 20 Jahre her war. In Florenz erhielt er ein Stipendium. Doch an keiner der von vielen anderen Künstlern ersehnten Kunststätten erlebte Barlach belebende Impulse. In Paris kritisierte er, dass er brav das Normale erfülle, und in Florenz erlebte er sich als "Nordlicht".
Entdeckung der Universalität
Erst auf einer Reise nach Russland und in die Ukraine zu und mit seinen Brüdern erlebte er seine wirkliche Berufung zu seinem persönlichen Stil, den alle mit Ernst Barlach verbinden, und der in den letzten Jahren auf Ausstellungen in Japan und Istanbul auf großer Resonanz stieß. Diese Ausstellungen, die zu den größten eines deutschen Künstlers im Ausland zählten, sind ein neuerlicher Hinweis auf die Universalität und das Allgemeingültige, die Barlachs Stil als bildender Künstler charakterisieren; denn durch sie fanden seine Darstellungen auch in jenen entfernten Kulturräumen sofort Anklang.
Merkmal dieser Universalität sind seine Titel mit den bestimmten Artikeln wie "Der Bettler", "Der Blinde", "Das Wiedersehen" oder ohne Artikel wie "Lachende Alte", "Lesender Mönch", "Friedensengel". Genau diese Universalität und das Grundsätzliche finden sich auch in den Titeln seiner sechs Dramen, "Der tote Tag", "Der arme Vetter", "Die echten Sedemunds" usw. Bildwerke und Dramenwerke Barlachs gehen vom selben Impuls des Porträts von Menschen aus.
Doppelbegabung, doppelte Tätigkeit
Während es zwischen der beruflichen Herkunft von Dichtern und Schriftstellern und ihrer dann ausgeübten Schreibtätigkeit große Spannen geben kann, sind Barlachs Bildschaffen und sein Dramenverfassen aus derselben Quelle gespeist, so weit sie auch auseinander zu liegen scheinen. Von Michelangelo, Rodin, Thorvaldsen oder Moore sind keine schriftstellerischen Impulse bekannt. Schiller, Büchner, Döblin und Benn waren ausgebildete Ärzte und schrieben doch glücklicherweise nicht nur Arztromane. Goethe, Storm oder Scheffel waren ausgebildete und sogar praktizierende Juristen und waren doch keineswegs auf Rechtsthemen fixiert. Barlachs eigene bildnerische Darstellungen (Grafiken) in einigen seiner Dramen unterstreichen viel mehr, dass seine bildnerischen Arbeiten durchaus zur Interpretation seiner Dramen herangezogen werden können. Wenn auch nicht so buchstäblich wie in einer Aufführung, in der man die Schauspieler so kostümiert hatte, dass sie wie seine russischen Figuren auf der Bühne herumliefen. Barlach selbst kritisierte diese sklavische Interpretation seiner Werke durch die Inszenierung.
Liebe und tiefe Erschütterung
Während Barlach in Russland und in der Ukraine von Landschaft und Menschen stark und positiv angesprochen wurde, erreichte ihn die Nachricht, dass eine zurückgelassene Liebschaft ein Kind von ihm erwartete. Am 20. August wurde Barlachs Sohn Nikolaus (Klaus) geboren. Das führte auch dazu, dass er die Reise früher als geplant abbrach. Der 36jährige kämpfte zwei Jahre lang um das alleinige Sorgerecht an seinem Sohn, was er auch zugesprochen bekam, wenn auch gleich an die eigene Mutter delegierte, die aus Ratzeburg inzwischen wieder nach Schönberg zurückgezogen war und bald darauf nach Güstrow zog. Daneben, dass Barlach sofort entschieden die Verantwortung für das Kind übernahm, muss ihn das überraschende Kommen seines Sohnes zutiefst erschüttert haben. Denn in jedem – in jedem! – seiner Dramen spielt das Verhältnis Eltern-Kind, die Verantwortung der Erzeuger für ihre Kinder oder die Freiheit und Selbstverantwortung der Kinder eine Rolle. Bis hin zu seinem letzten Drama "Die gute Zeit", das er zwischen 1925 und 1929 schrieb, ließ ihn das Thema nicht los – also noch 23 Jahre nach Geburt seines Sohnes. Barlach thematisiert das Kindsein ständig so sehr und so direkt, dass es wie eine Besessenheit anmuten kann. Es wäre wünschenswert, dass bald eine Monografie "Barlach als Vater" geschrieben würde. Am besten wäre es ja, sie würde von Alice Miller geschrieben, doch das ist nun leider unmöglich. Zusammen mit dem Obskuren und Ominösen entsteht durch die Thematisierung des Abhängigseins als Kind die lastende Seite in Barlachs Dramen.
Dramen ohne Bühnenerfahrung
Barlachs erstes Drama "Der tote Tag" wurde 1912 veröffentlicht und 1917 in Berlin uraufgeführt. Barlach war zu dem Zeitpunkt 42 Jahre alt. Seine persönlichen Arbeiten an dem Drama reichen bis etwa 1907 zurück. Es ist jedoch das Erstaunliche, dass er ohne jede weitere Vorbildung urplötzlich zu Dramen findet, die ja in der Literatur im Vergleich zu Romanen oder Gedichten eigentlich die öffentlichste Form darstellen. Das ist wirklich grundsätzlich anders als bei dem von Barlach überaus geschätzten und bis ins Alter oft gelesenen Shakespeare, der selbst Schauspieler war. Oder bei Goethe, der schon als Kind mit Marionettentheatern experimentierte und Stücke für die Volksbühne schrieb (von denen er leider allzu viele selbst vernichtete), der auf allen Reisen stets weidlich Theater- und Opernaufführungen genoss, und der bis hin zu seiner Zeit als Minister Leiter von Theater und Oper war und gelegentlich selbst schauspielerte. Oder da sind die Wiener Schauspieler-Autoren wie Nestroy und Raimund. Will sagen: Es gibt viele bühnenerfahrene Bühnenautoren, und zu ihnen zählte Barlach wahrlich nicht. Er war ja nicht einmal als Requisitenbauer einer Bühne nahe.
Im Gegenteil, als er einmal eine Aufführung eines seiner Stücke erlebte, war er davon so enttäuscht, dass er sich keine weitere Aufführung mehr ansah. Jemand wie Goethe hätte gewusst,
dass das so ist und man damit leben muss. Das ist halt die Lebendigkeit einer Drameninszenierung. "Zwar muss der Regisseur nachweisen, dass seine Interpretation mit dem Text übereinstimmt", erläuterte Professor Joachim Kaiser in einem Vortrag vor der Shakespeare-Gesellschaft Bochum, "aber ansonsten hat er die Freiheit. Das Wort ist eine weniger genaue Vorschrift als eine Note."
Lange Sammlung, langer Schreibprozess
"Fand urplötzlich zu Dramen" – das bezieht sich nur darauf, wie das Schreiben für die Bühne in seinem Leben auftaucht – mit den Inhalten befasste er sich sehr wohl längere Zeit. Das Schreiben dauerte bei Barlach ebenfalls immer mehrere Jahre. Er schrieb Unmengen von kurzen Szenen oder Redestücken, "Textfetzen" – nur wegen ihres geringen Umfanges, nicht wegen des Inhalts. Aus diesen Elementen schuf er später zusammenhängende Textpartien, die jedoch auch noch intensiv weiter bearbeitet wurden. Bezeichnend ist, dass er sein großes Manuskriptpapier in der Mitte knickte, nur einspaltig beschrieb, und sich Platz für spätere Änderungen oder Ergänzungen ließ – wovon er auch reichlich Gebrauch machte. Mit diesen Manuskripten hat ein Verlag eine immense Editionsarbeit zu leisten, umso mehr, als ein oder mehrere Drucke wiederum mit neuen Varianten auftauchten, von denen nicht immer nachvollzogen werden kann, ob sie von Barlach selbst oder von Setzers eigenmächtiger Hand (oder aus mündlichen Anweisungen Barlachs) stammen. Immerhin erlaubt Barlachs gepflegte, elegante Sprache gewisse Rückschlüsse – anders als wenn seine mit krassen Stilunterschieden und jargon-naher Sprache ausgestattet wären.
Barlachs expressionistische Dramen kann man sich leichter vorstellen, wenn man ein frühes Zeugnis Barlachs liest. Schon 1895, während seines Aufenthaltes in Paris, schrieb er einen Roman "Die Reise des Humors und des Beobachtungsgeistes". Da heißt es etwa: "Der Aufbruch geschah mit aller hast, denn es war fast zu früh geworden. Noch am Tore wurde der Mumie eine großartige Ovation dargebracht, und als sie und der Humor beim Eintritt in die Rue de la Roquette noch einmal zurück sahen, warfen die Gespenster, die ihnen nachschauten, alle ihre Schädel in die Höhe als ehrenvollsten Gruß in die Ferne." Diese Dichte fantastischer Vorstellungen und die Doppelbödigkeit muss man sich als eine Grundlage zu Barlachs Dramen denken. Seine Sprache gerät vom Ton her jedoch nie ins Schwärmerische sondern bleibt von einer sachlichen Art. Auch schreibt Barlach kompakt und konkret-anschaulich. Stilisten wie Ludwig Reiners hätten ihre Freude an Barlach gehabt.
Ähnlich noch 1897, geschrieben in einer Skizze "Im Märchenlande" in Friedrichroda, wo Barlach mit seiner Mutter eine Weile lebte, heißt es: "Die Häuser erwachten; zuerst tat ein Dachfenster einen ängstlichen Blick auf die schaurige Nacht, dann schlugen hier und da viereckige Stubenfenster die Lider auf; Lichter rannten treppauf und treppab, guckten ängstlich heraus, liefen ein Stück vor auf der Straße und sprangen in scheunentorgroßen Schlaglichtern an die Wände des Nachbarhauses; …" Regisseure finden in diesen frühen Geschichten möglicherweise Anregungen zum Verständnis und Ergänzungen zu den bestehenden Regieanweisungen Barlachs. Allerdings gibt es ja auch Reihen von Lithographien oder Holzschnitten Barlachs zu einigen seiner Dramen. Dankbar muss man hier auf den Verleger Paul Cassirer verweisen, der Barlachs Werke freundschaftlich annahm und betreute, auch zu einer Zeit, als der Zeitgeist ihnen entgegen stand.
Vor allem in den "Echten Sedemunds" fallen die präzisen Angaben Barlachs zu Orten, Handlungen, Bewegungen der Gestalten, Geräuschen und Musik auf. Daraus erhellt, wie sehr Barlach bühnengemäß dachte und schrieb, wiewohl das aus seiner Biografie nicht so deutlich hervorgeht. In den "Sedemunds" treten auch die meisten Sprachvarianten auf wie das Sächsisch des Orgelspielers, das Berlinerische des Polizisten Lemmchen, der Sprachfehler (kein R) von Onkel Sedemund und der italienische Akzent des Zirkusleiters Franchi.
A, "Blauen Boll" wird insbesondere der geschickte Aufbau des Dramas gelobt.
Bühnengemäß auch ohne Schauspielerfahrung
Überraschend angesichts seines geringen Umgangs mit der Bühne überrascht, dass Barlachs Stücke dennoch so bühnengemäß sind. Sie enthalten interne Regieanweisungen, artikulieren, wie Schauspielpartner aufeinander reagieren sollen, sie erfordern keine schwer zu beschaffenden Requisiten, sie ergehen sich auch nicht in ellenlangen Erläuterungen Barlachs. Die Anweisungen, die es vor den Stücken oder im Text gibt, unterstreichen nur, wie hier Barlachs Beobachtungsfähigkeit, die sein bildnerisches Schaffen speist, auch die Vorstellung von einer Inszenierung prägt.
Blick über die Dramen
1912 Der tote Tag. Uraufgeführt in Berlin 1917, Leipzig 1919.
Notizen seit 1907-10. Lithographien 1911
1918
Der arme Vetter. Uraufgeführt 1919 in Hamburg und Leipzig.
Arbeiten: 1910-17
1920
Die echten Sedemunds, Uraufführung 1921 in Hamburg.
Arbeiten: 1917-20
1922
Der Findling. Uraufführung 1928 in Königsberg.
Arbeiten: 1920-22. Holzschnitte 1922.
1924
Die Sündflut. Uraufgeführt 1924 in Stuttgart.
Arbeiten 1923-24. 35 Vorstellungen nach dem 2. Weltkrieg.
1926
Der blaue Boll. Uraufführung in Stuttgart.
Arbeiten 1923-24. Regie: Jürgen Fehling. Boll: Heinrich George.
30 Aufführungen, größter Aufführungserfolg zu Lebzeiten.
1927
Der Graf von Ratzeburg begonnen.
Arbeiten von 1925-37, längste Schreibtätigkeit Barlachs an einem Drama. Uraufführung nach dem 2. Weltkrieg. Erschien posthum.
1929
Die gute Zeit. Uraufgeführt in Gera.
Arbeiten 1925-29.
Barlachs Dramen kamen also in einem Zeitraum von 17 Jahren heraus, und der Abstand zwischen ihnen betrug meistens etwa 2 Jahre.
Verfolgung und Bewahrung des Erbes
Im Jahre 1910 fand sich Barlach nach Abschluss seines Stipendiats in Florenz selbst in Güstrow ein, wo Mutter und Sohn lebten, und verbrachte dort die längste Periode seines Lebens. Daher darf sich die Stadt heute mit Recht "Barlachstadt" nennen. Entgegen dieser Beständigkeit wies sein Privatleben weitere Unbeständigkeiten auf. Er wohnte bei und in der Nähe des befreundeten Paares Bernard und Marga Böhmer, und je länger er dort lebte, desto inniger wurde sein Verhältnis zu der Ehefrau. Das Verhältnis gedieh besonders, nachdem Böhmer im Ortsteil Heidberg ein Atelierhaus hatte bauen lassen – das heutige Barlach-Museum. Doch überraschend ließ der geprellte Ehemann Barlach als Künstler deswegen nicht fallen sondern vertrat und förderte ihn weiter. Böhmer sympathisierte mit den Nazis. Er konnte nicht jedes Unheil verhindern, versuchte aber sein Möglichstes. Das "Magdeburger Mahl" etwa hat er retten können, und es wurde auch nie ein Berufsverbot gegen Barlach ausgesprochen. Ebenso war Marga Böhmer nach seinem Tode treue Sachwalterin seines Erbes und hielt zusammen, was sie konnte.
Überraschend früh, nämlich ab 1936, schossen sich die Nazis auf ihn ein. Kunstwerke wurden sogar aus Kirchen abgehängt, andere wurden sogar zerstört, und Barlachs Werke auszustellen wurde ihnen als "entarteter Kunst" 1937 ebenfalls verboten. Auch geschriebene Arbeiten wurden eingezogen. Im Jahre 1937 alleine wurden nicht weniger als 371 seiner Arbeiten beschlagnahmt. Auch seine Mitgliedschaften in bedeutenden literarischen und bildkünstlerischen Gesellschaften konnten ihn davor nicht schützen. Zusätzlich zu dem Leid, das so etwas einem Künstler verursacht, kam für Barlach die Frage, wieso das überhaupt geschehe. Denn weder war er ja selbst politisch, noch provozierte er bewusst mit seinen Werken. Ein Schweizer Student berichtete in einem Brief nach Hause von Barlachs Irritation über die vehementen Einschränkungen. Barlach fügte sich, blieb unauffällig und konnte dadurch immerhin in der Stille weiter arbeiten.
Würdigungen durch Preise
1924 Kleist-Preis
1925 Ehrenmitglied der Akademie der bildenden Künste, München
1931 Ehrenmitglied des Vereins deutscher Buchkünstler
1933 Ritter der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite
1936 Ehrenmitglied der Wiener Secession;
Ehrenmitglied des Künstlerverbandes österr. Bildhauer der Akademie der bild. Künste, Wien
A. Martin Steffe |